Esther Amrein und Marius Brühlmeier im Gemeindehaus Wohlen
21.Oktober bis 11. November 2017
Umraum
oder
Brutstätten für transformierte Referenzsysteme der Wahrnehmung
Im Gemeindehaus Wohlen tut sich etwas. Der ausstellungstechnisch herausfordernde Raum ist in Bewegung geraten. Auflösungserscheinungen melden sich an, der Boden als solide Basis wird befragt, auch das Dach über dem Kopf ist nicht mehr so sicher wie gewohnt. Vom Vordach hängen Gespinste herunter, sie rücken ins Blickfeld, ob man sich nun schon bereits im oder noch ausserhalb des Gemeindehauses befindet. Esther Amrein und Marius Brühlmeier bespielen den Ausstellungsraum ambitioniert Grenzen sprengend.
Für Esther Amrein ist ihr künstlerischer Auftritt gleichsam ein Heimspiel. Sie wurde in Wohlen geboren und ist in der Gemeinde aufgewachsen. Marius Brühlmeier stammt aus Wettingen. Beide arbeiten sie ihn Baden, wo Esther Amrein heute auch lebt. Terminüberschneidungen brachten die beiden eher zufällig für die Ausstellung zusammen. Dass Esther Amrein schliesslich Marius Brühlmeier vorschlug, dass sie doch gemeinsam eine Ausstellung bestreiten könnten, wurde als Idee gerne angenommen. Ein Glücksfall, wie ich finde. Die beiden hatten sich vor dieser Einladung nicht sehr gut gekannt und es wäre daher wohl kaum zu einer bewusst geplanten Doppelausstellung gekommen. Die gemeinsame Arbeit hat im Rückblick so manche verborgene Gemeinsamkeit zu Tage gefördert, dies, obwohl zwei sehr eigenständige Positionen aufeinandertreffen, dies jedoch vor allem, weil zwei geistig verwandte Temperamente befruchtende Affinitäten in ihren Denkansätzen herausschälen konnten.
Dass beide sehr stark auf den Raum, auf Raumvorgaben reagieren, kommt nicht von ungefähr. Marius Brühlmeier hatte vor seiner freien künstlerischen Arbeit an der ETH Zürich Architektur studiert, Esther Amrein war als Bauchzeichnerin tätig. «UMRAUM» heisst die Ausstellung. Kaum hatte ich den Titel erfahren, begann der Begriff in meinem Kopf Bedeutungsvarianten und Bedeutungstransformationen auszulösen, Bedeutungserweiterungen und Bedeutungsspielereien. Ich gab im Internet-Duden «Umraum» ein und stiess auf eine Rubrik, die mir bis anhin so noch nicht wirklich bewusst aufgefallen war, und zwar auf «BLÄTTERN» - Im Alphabet davor / im Alphabet danach.
Umraum – davor:
umrändert
Umrandung
umrangieren
umranken
Umrankung
Umraum – danach:
umräumen
Umräumung
umrechnen
Umrechnung
Umrechnungskurs
Die lexikalische Anordnung listet die Wörter im Grossen und Ganzen in ihrer vom Kontext weitgehend unabhängigen Bedeutung auf. Erlaubt man sich die «kleinere Spinnerei», die eben zitierten Wortreihen kaleidoskopartig durcheinander zu würfeln, entstehen neue Bedeutungsfelder, neue Bedeutungsverknüpfungen und Bedeutungsinhalte. Eine sprachliche Fundgrube eröffnet sich, die ihr visuelles Pendant in der Ausstellung wiederfindet.
Umraum - der umbaute Raum oder der Raum der Umbauung? Aussen, innen, öffentlich, privat, Einsicht, Aussicht? Unterscheidungen sind kaum mehr klar auszumachen, alles geht ineinander über und verändert dabei den Kanon der normalen Wahrnehmung. Esther Amrein und Marius Brühlmeier haben den Gemeindehausraum durch ihre Ausstellungseinrichtung verwandelt. Sie haben umgeräumt, ausgeräumt, aufgeräumt und eingeräumt. Wo stehen Sie als Besucher? Wie ist Ihr Befinden, wenn Sie sich gleichsam woanders befinden, wenn Sie nicht wirklich lokalisieren können, wo die Dinge lokalisiert sind?
Die beiden verwirren mit einer ästhetischen Anmut, die aufrüttelt. Malerei und Zeichnung zeigt Marius Brühlmeier, Objekte und Stickereien Esther Amrein. Dort ist die Farbe von zentraler Bedeutung, hier übernimmt die Linie die Rolle der Protagonistin. Ob Farbe oder Linie, Raum oder Objekt, oder das eine sowohl wie das andere, stets sind Verwandlungen, sind Metamorphosen initiiert und sowohl real als auch virtuell ausgeführt. Es darf imaginiert werden, wunderbar, wenn dabei ungesehene Wirklichkeit in der Realität erfahrbar wird.
Ausgesehen haben Sie, liebe Vernissagegäste, die Ausstellung im Grunde nie. Zudem wird jeder und jede andere Linienverläufe verfolgen, andere Erfahrungswerte beim Assoziieren einbringen und dabei unterschiedliche Entdeckungen machen. Esther Amrein ist als gebürtige Wohlerin die grosse Bedeutung der Strohindustrie im Freiamt nicht entgangen. Ich hatte mir im Rahmen meiner Vorbereitungen für die Rede einige Unterlagen über das Strohmuseum beschafft. Als ich auf die Abbildung eines beeindruckend schönen Musterbuchs stiess, wie sie zur Präsentation auf die Reisen mitgenommen wurden, kam bei mir die Vermutung auf, dass Esther Amreins Stickereien mit ihrer eigenwilligen Neuinterpretation von weiblicher Heimarbeit vielleicht eine Verwurzelung in ihren Erfahrungen mit der Tradition des Strohflechtens haben könnten.
«Nadelstiche, Sticken in der Kunst der Gegenwart» lautet der Titel eines sehr aufschlussreichen Buches, in dem mir ein Kapitel mit der Überschrift «FEMINISTISCHE UMRÄUMUNGEN» auffiel. Dass Sticken in der Gegenwartskunst überhaupt Eingang finden und gar provokativ werden konnte, geht mit der Hinterfragung und Demontage traditioneller Weiblichkeitsideale besonders der bürgerlichen Gesellschaft einher. Sticken wird zuweilen als Mnemotechnik interpretiert, als eine Erinnerungsarbeit, vor allem eine individuelle Erinnerungsarbeit. Sticken führt ein Moment des Wiederholens - der Vervielfältigung - mit sich, das Sticken durchsticht ein Trägermaterial und legt ein neues Material darauf und darunter. Auch Schichtung ist eine Metapher für Erinnerung.
Sie sehen, meine Damen und Herren, plötzlich werden ganz neue Wahrnehmungskanäle offengelegt. Ich versuche im Folgenden, nicht ein Kurzreferat zu Esther Amrein, dann eines zu Marius Brühlmeier vorzutragen, sondern hin und her zu switchen, um einen potenziellen Dialog anzuregen. Die Forschung kennt den Begriff des Umraumgedächtnisses. Unterschiedlichste Referenzsysteme werden aktiviert, wenn wir uns im Raum orientieren und Gegenstände darin lokalisieren. Und nun diese Bilder, mit denen uns Marius Brühlmeier konfrontiert.
Ein Plädoyer für (mehr) Sinnlichkeit und Körpernähe durchzieht die Doppelausstellung. Aus weiter Ferne klingt zuweilen latent Gegenständliches in einzelnen Arbeiten von Marius Brühlmeier an. Wenn die Arbeiten nicht in reiner Spontaneität als betont klangliche Farbsetzungen auf Farbsetzungen entstanden sind, liegen mehrfach modifizierte Zeichnungen beziehungsweise zeichnerische Elemente oder verfremdete Collage-Einschübe, die in beiden Fällen auf Fotografien basieren, zu Grunde. Vielfältig bedeutsam wirken dabei einhergehende Werteverschiebungen. Bestehende Hell-Dunkel-Werte wurden in den experimentellen Zwischenstufen dieser Vorphase umgekehrt, bevor einzelne Blätter für die weitergehende Malerei ausgewählt wurden. Gerade ihre spezifischen materiellen Eigenschaften, etwa die Druckausschnitte als Collageelemente in Kombination mit Acryl oder die gezielten Graphitinterventionen auf Pigmentdruck, lassen diese «Zwischenstufen» aber immer auch als eigenständige Werke auftreten, gleichsam als Repräsentanten wahrgenommener Zustandsweisen.
In den Gemälden in Tempera/Öl hat sich begrifflich benennbare Gegenständlichkeit in sich formierende Farbmanifestationen aufgelöst. Erkennbares hat Erahnbarem und vor allem Empfindbarem Platz gemacht. Die zuvor am Computer veränderten, oft mehrmals gedrehten fotografischen Ausschnitte bilden für Marius Brühlmeier eine Art Reaktionsbasis für seine Neuentdeckungen im Medium der Malerei. Sehr sprechend, was er mir in seinem Atelier anvertraute, indem er mir sagte, dass er zu erhören versuche, was ihm die Werkstufe der Collage für die weitere Malerei sage. Während eines früheren Aufenthalts in Berlin hatte er mit gefalteten Papieren und Leinwänden experimentiert, wobei die Faltungen mit ihren Linien- und Flächenvorgaben die weitere gestalterische Vorgehensweise bestimmt hatten.
Was ist Umraum, was Raum? Durchsichten, Überlagerungen und Überschneidungen sorgen für ein verschmelzendes, sich ständig veränderndes Raumempfinden. D i e Perspektive, d e n Gegenstand gibt es nicht mehr. Ein Reichtum an Potenzialitäten bestimmt das Raumgewoge. Kognitives u n d Sensorisches wirken zusammen, was die Orientierung im unendlich weiten Feld der Wahrnehmung bereichert.
Malerei ist eine relationale Erscheinung. Wie wäre es, vom Raum-Ding zu sprechen?
Hat man bei Marius Brühlmeier zuweilen den Eindruck, als ob sich in einem architektonischen Rohbau farbliche Elemente äussern würden, so bleiben bei Esther Amrein die Blicke der Besucher in netzartigen Gebilden hängen. Auch bei ihr spielen die Nuancen der unterschiedlichen verwendeten Materialien eine ganz wichtige Rolle. Die Beschaffenheit der Materialien ist oft erst auf den zweiten, vielleicht gar dritten Blick oder überhaupt nicht auszumachen. Was von Weitem an Gummibänder erinnert, sind dünne gelaserte Kupferbleche, die mit Schwefelleber patiniert wurden. Womit auf transparente Folien gestickt wurde, sind alles andere als Naturfasern, sondern abgespulte Mini-DV-Bänder aus Videokameras. Esther Amrein stickt mit Speichermaterial. Erinnern Sie sich noch an die eingangs erwähnte Metapher für Erinnerung?
Welche fremden, welche eigenen, welche potenziellen Geschichten erzählen diese Bänder, welche visuellen Bilder tragen sie in sich? Da und nicht da, anwesend in der Abwesenheit. Die Linien umschreiben Körper, sie verdichten sich zu reliefartigen Strichbändern, sie bleiben als Stege und skelettartige Stützen in Papierschnitten stehen. Auch die Linie ist eine Referenzgrösse, um sich in der Welt zu orientieren. Gern geht dabei vergessen, dass die Linie als solche in der Realität nicht vorkommt, sondern eine Konstruktion ist, eine abstrakte mathematische Einheit. Esther Amrein ist der Linie als visuellem Phänomen auf der Spur und lässt sie vergleichbar mit den Aggregatzuständen in wechselnden Präsenzen manifest werden. Die Linie hat auch Sinnlichkeitspotenzial.
Esther Amrein zeigt Linien in einem Transformationsprozess. Bei den grossen Papierschnitten hat sie die Tuschfeder mit einem selbst konstruierten Pendelwerkzeug über das Papier geführt. Stehend hat sie gezeichnet und ihre eigenen Bewegungsimpulse über das leicht hüpfende Pendel in den Verlauf der Tuschespuren eingehen lassen. Linien wohnt als Eigenschaft eine Bewegungsdynamik inne, der Esther Amrein in ihrer künstlerischen Performance Lebendigkeit verliehen hat.
Sticken heisst durch eine Oberfläche stechen. Wie gedehnt wirkt der leicht erhöhte fast flache Linienkörper, der mehr als zweidimensional, doch noch nicht wirklich dreidimensional sich behauptet. Da Esther Amrein auf Transparentfolie gestickt hat, wird eine spiegelverkehrte Deckungsgleichheit von Vorder-und Rückseite sichtbar. In den Papierschnitten und den Stickereien treten das Innenleben und die Rückseite in den Fokus. Die dreidimensionalen Körper, die durch Baumverästelungen inspiriert sind, lassen an organische Hüllen und Nester denken. Der im südlichen Afrika lebende Webervogel, auf den mich Esther Amrein aufmerksam gemacht hat, ist ein Meister im Nestbau, ein wahrer Architekt, der wie beim Nähen mit Nadel und Faden mit Schnabel und Füssen Blattstreifen und Grashalme zu flaschenförmig herunterhängenden Behausungen miteinander verflicht. Das Männchen muss die zeitintensive «Heimarbeit» leisten, will es ein Weibchen gewinnen. Auch die Arbeiten von Marius Brühlmeier und Esther Amrein vernähen die Partikel der Welt ein bisschen anders als gewohnt. Reflexion darf sinnlich sein. Eröffnet ist ein persönlicher Blick ins Universum: aus Regungen werden Resonanzen.
© Sabine Arlitt, Zürich 2017